Aktien
Dividendenrendite – der große Bluff
Von Markus Neumann
Eine langfristig zweistellige oder gar dreistellige Dividendenrendite versprechen manche Autoren von Börsenbüchern ihren Lesern. Wenn angeblich märchenhafte Gewinne winken, sollten Investoren jedoch auf der Hut sein. Wie Anlegerflüsterer Dividendenaktien schön rechnen und hoffnungslos überzogene Erwartungen wecken.
In den 1990er-Jahren lockte Anleger vor allem die Aussicht auf hohe Kursgewinne an die Börse. Kaum jemand interessierte sich damals für die Dividenden, die viele Aktiengesellschaften ausschütten. Über die Dividendenrendite redeten nur Investoren, die als Ewiggestrige galten.
Doch seitdem die Zinsen für Anleihen und Bankeinlagen immer weiter sanken, bringen Investoren den Gewinnausschüttungen von Aktien eine steigende Wertschätzung entgegen. Mittlerweile sind Dividenden der neue Fetisch vieler Anleger.
Auf der Jagd nach dividendenstarken Aktien steht vor allem eine populäre Bewertungskennzahl im Mittelpunkt: die Dividendenrendite. Sie ergibt sich, indem man die Dividende, die ein Unternehmen bezahlt, durch den Kurs seiner Aktie teilt (und mit 100 multipliziert). Nehmen wir an, eine Aktie der Deutschen Telekom kostet am Tag der Dividendenzahlung 10 Euro und das Unternehmen schüttet 0,70 Euro pro Aktie an die Anleger aus. Dann beträgt die Dividendenrendite 7 Prozent.
Für die fortlaufende Berechnung der Dividendenrendite wird in der Praxis entweder die zuletzt bezahlte Dividende oder die prognostizierte verwendet. In beiden Fällen handelt es sich letztlich um Schätzungen. Denn wie viel eine Aktiengesellschaft zum nächsten Termin tatsächlich ausbezahlen wird, ist ungewiss. Insofern steht die jeweils aktuelle Dividendenrendite nur an den Zahltagen fest.
Die persönliche Dividendenrendite
Die aktuelle Dividendenrendite liefert eine Momentaufnahme, die für viele Anleger eine Orientierung bei der Auswahl von Aktien ist. Über den langfristigen Anlageerfolg mit Dividenden sagt sie aber nichts aus. Dafür müssen Anleger ihre persönliche Dividendenrendite berechnen. Dabei wird nicht der aktuelle Aktienkurs des Unternehmens, sondern der persönliche Kaufkurs ins Verhältnis zu den ausbezahlten Dividenden gesetzt.
Steigen die Ausschüttungen einer Aktiengesellschaft im Lauf der Jahre an, nimmt nach Darstellung mancher Börsenbuchautoren auch die persönliche Dividendenrendite automatisch zu. Beispiel: Ein Anleger kauft heute Aktien eines Unternehmens zum Stückpreis von 100 Euro. Der Konzern schüttet am nächsten Zahlungstermin eine Dividende von 5 Euro pro Aktie aus. Dividendenrendite: 5 Prozent. Zehn Jahre später ist die Dividende auf 15 Euro gestiegen. Persönliche Dividendenrendite des Anlegers: 15 Prozent.
Die schöne neue Dividendenwelt in Büchern und Medien
Diesen üppigen Renditezuwachs nennt die gefeierte (und inzwischen verstorbene) Finanzbuchautorin Beate Sander die „Zauberformel“. Langfristigen Anlegern stellt sie zweistellige Dividendenrenditen in Aussicht. Sander führt in ihrem Ratgeber „Neue Aktienstrategien für Privatanleger“ 19 Aktien auf, die ihr nach drei bis zwölf Jahren Haltedauer Dividendenrenditen in Höhe von 8,4 bis 35 Prozent bescherten.
Der Journalist Christian Kirchner rechnete 2018 in Capital vor, dass Anleger, die 25 Jahre zuvor BMW-Aktien gekauft hatten, eine Dividendenrendite von 60 Prozent einstrichen. Wer auf BASF gesetzt hatte, kassierte 55 Prozent. Und das sei „kein Einzelfall“.
Die Autoren Rolf Morrien und Lars Günther („Verschenken Sie kein Geld“) setzen noch einen oben drauf. Nach ihren Berechnungen hätte ein Investor, der 1959 Nestlé-Aktien kaufte, im Jahr 2014 eine Dividendenrendite von 158 Prozent erhalten. „Davon träumt jeder Sparer!“ jubeln sie.
Ähnliche Rechenbeispiele finden sich auch bei Werner H. Heussinger und Christian W. Röhl („Cool bleiben und Dividenden kassieren), bei Marian Kopocz („Kleingeldhelden auf dem Weg zum großen Vermögen“) und auf der Website des in die Jahre gekommenen Börsengurus Gottfried Heller – allerdings mit weit weniger spektakulären Zahlen.
Opfer der Geldillusion
All diesen vielversprechenden Beispielrechnungen gemein ist aber, dass sie die Inflation ignorieren. Wer viele Jahre zurückliegende Kaufkurse mit heute ausgezahlten Dividenden vergleicht, erliegt der von Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman beschrieben Geldillusion, weil die Inflationsrate nicht mit ins Kalkül gezogen wird. Solange die Verbraucherpreise tendenziell steigen, sinkt der Wert des Geldes gemessen an der Kaufkraft Jahr für Jahr. 100 Euro im Jahr 2005 hatten einen höheren Wert als 100 Euro heute. Das aber ist vielen Menschen nicht bewusst.
Für valide Vergleiche von Wirtschafts- und Finanzkennzahlen rechnen Ökonomen die Inflation heraus. Andernfalls wäre beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt hoffnungslos nach oben verzerrt und würde wenig über die Wirtschaftsleistung eines Landes aussagen.
Mit der langfristigen Dividendenrendite ist es nicht anders. Über den tatsächlichen, den realen, Anlageerfolg, gibt sie nur Auskunft, wenn sie inflationsbereinigt wird.
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Die reale langfristige Dividendenrendite
Beispiel: Nach Angaben von Beate Sander kaufte sie am 7. März 2003 Aktien von Bayer zum Preis von 14,60 Euro (tatsächlich bewegte sich der Kurs an diesem Tag zwischen 12,15 und 11,67 Euro, aber das ist eine andere Geschichte). Der Autorin zufolge schüttete der Konzern 2014 eine Dividende von 2,3 Euro pro Aktie aus (tatsächlich waren es nur 2,25 Euro). Das entspricht laut Sander einer Dividendenrendite von 15,8 Prozent (15,41 Prozent).
Real, also nach Abzug der Inflation betrug die Ausschüttung nur 1,9 Euro und die Dividendenrendite 12,99 Prozent. Wie sich diese Kennzahl nominal (ohne Abzug der Inflation) und real seit 2003 entwickelten zeigt die folgende Tabelle:
Bayer-Aktie: Langfristige nominale und reale Dividendenrendite im Vergleich
Wer zu Sanders Einstiegskurs gekauft hätte, erzielte 2019 mit der Bayer-Aktie eine nominale Dividendenrendite von 19,18 und real von 15,14 Prozent. Dass die Differenz nur 4 Prozentpunkte beträgt, liegt an den niedrigen Inflationsraten im neuen Jahrtausend.
Ob die Verbraucherpreise auch künftig nur wenig steigen, weiß niemand. Im vorigen Jahrhundert war die Inflation jedenfalls deutlich höher, besonders in den 1970er-Jahren. Auch damals war Bayer schon börsennotiert und schüttete Dividenden aus. Wie hätte sich die langfristige Dividende entwickelt, wenn ein Anleger 1966 Bayer-Aktien gekauft und bis 1983 gehalten hätte? Real wäre sie um fast die Hälfte gesunken.
Dividendenzahlungen von Bayer: Höhere Inflationraten senken die reale langfristige Dividende erheblich
In den USA sanken die realen Dividendenausschüttungen der im S&P Composite Index notierten Unternehmen im selben Zeitraum um 21 Prozent. Nominal waren die Zahlungen um 142 Prozent gestiegen. Das zeigen Fairvalue-Berechnungen auf Basis von Daten des Ökonomen Robert Shiller.
Die Beispiele verdeutlichen: Inflation kann die reale langfristige Dividendenrendite erheblich schmälern. Wer die Anstiegsrate der Verbraucherpreise nicht bei der Berechnung des Anlageerfolges berücksichtigt, macht sich und anderen etwas vor.
Wie der Einstiegskurs die langfristige Dividendenrendite beeinflusst
Die langfristige Dividendenrendite hängt auch vom Einstiegszeitpunkt ab. Die Aktien, mit denen Beate Sander langfristig zweistellige Dividendenrenditen erzielt haben will, erwarb sie nach ihren Angaben fast alle zu Zeitpunkten, an denen die Kurse extrem niedrig waren, nämlich 2003 und 2008. Die meisten Privatanleger waren damals damit beschäftigt, ihre Verluste aus den vorangegangenen Crashs zu verarbeiten. Gekauft haben nur die allerwenigsten.
Der Einstandspreis hat aber erhebliche Auswirkungen auf die langfristige Dividendenrendite. Das demonstriert die folgende Berechnung wieder am Beispiel der Bayer-Aktie: Angenommen ein Anleger stieg in das Unternehmen vier Jahre vor Beate Sander ein, nämlich Anfang 1999. Damals waren die Deutschen im Dotcom-Fieber. Sie kauften jede Aktie, die sich kriegen konnten, solange das Unternehmen irgendetwas mit Internet zu tun hatte.
Bayer war als Old-Economy-Unternehmen in diesem Umfeld alles andere als sexy, die Nachfrage nach dem Titel vergleichsweise gering. Davon zeugt die relativ hohe Dividendenrendite von 3,58 Prozent im Jahr 1999. Der Börsenkurs war demnach nicht dramatisch überhöht wie bei vielen anderen Konzernen. Dennoch fällt die langfristige Dividendenrendite im Vergleich zu Sanders sehr schmal aus, wenn ein Anleger damals gekauft hätte.
Entwicklung der langfristigen Dividendenrendite bei einem Einstieg in die Bayer-Aktie Anfang 1999
Obwohl der fiktive Anleger vier Jahre länger investierte, kommt er nur auf eine reale Dividendenrendite von knapp 6 Prozent, während Sander nach eigenen Angaben fast 13 Prozent verdiente. Ursache ist der mehr als doppelt so hohe Einstiegskurs im Jahr 1999.
Doch Börsencrashs, während denen die Kurse drastisch sinken, sind selten. Und private Anleger steigen um diese Tiefpunkte herum aller Erfahrung nach nicht im großen Stil in Aktien ein. Insofern sind hohe Dividendenrenditen, die zu einem beträchtlichen Teil aus einem glücklichen Market-Timing resultieren, unwahrscheinlich.
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Nur wenige Unternehmen liefern bei der Dividende über Jahre Spitzenergebnisse
Ebenso wichtig wie ein günstiger Einstiegszeitpunkt, ist die Auswahl der Aktien. Sander hat nach eigenen Angaben nicht nur nahezu perfekte Kaufzeitpunkte gewählt. Sie pickte auch viele Unternehmen heraus, die ihre Dividendenausschüttungen zum Teil noch kräftiger steigerten als Bayer. Ohne steigende Dividenden kann logischerweise auch die langfristige reale Dividendenrendite nicht ansteigen. Sie sinkt mit der Zeit, wenn die Unternehmen bei den Ausschüttungen nicht zulegen, wie das Beispiel der Deutschen Telekom zeigt.
Zwar fiel deren jährliche Ausschüttung nur zwei Mal aus. Doch 2019 war die Dividende etwas geringer als 1999. Für einen Anleger, der Anfang 1999 Telekom-Aktien gekauft hatte, war die reale Dividendenrendite nach 21 Jahren um rund 25 Prozent niedriger (siehe Tabelle).
Einst geliebt, heute von vielen Anlegern gehasst: Entwicklung der Dividendenrendite der Deutschen Telekom
Schlaumeier werden jetzt vermutlich sagen: Wer kauft denn schon eine Schrottaktie wie die Telekom? Doch 1999 war die Telekom kein Schrott, sondern eine heißbegehrte Volksaktie, für deren Neuemissionen die Anleger gewissermaßen Schlange standen.
Auch die Commerzbank war Anfang des neuen Jahrtausends kein Müll. 2005 verdoppelte das Geldinstitut seine Dividende von 0,25 auf 0,5 Euro. 2006 legte die Bank noch einmal 50 Prozent und 2007 gut 33 Prozent drauf. In den 1990er-Jahren hatte das Unternehmen seine Dividende bis zum Dotcom-Crash nie gesenkt. Sehen so Verlierer aus? Offensichtlich. Denn seit 2008 zahlte die Commerzbank nur noch zweimal eine Dividende in Höhe von 0,2 Euro. Der Kurs der Aktie fiel von rund 218 Euro im April 2007 auf 4,5 Euro (Stand: 13. Juli 2020).
Die künftigen Gewinner sind unbekannt
Natürlich sind das nur Einzelbeispiele. Aber sie illustrieren eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt: Welche Unternehmen in der Zukunft Dividenden zahlen und ihre Ausschüttungen steigern werden, ist unbekannt. Firmen, die heute scheinbar noch vor Gesundheit strotzen, können schon morgen in Schwierigkeiten geraten. Siehe Wirecard.
Zudem ist die Zahl der Unternehmen, die in der Lage sind, ihre Dividenden kontinuierlich zu steigern, sehr gering. Am deutschen Aktienmarkt gab es 2019 laut einer Gemeinschaftsstudie der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Dividendenadel.de und der FOM-Hochschule nur ein einziges börsennotiertes Unternehmen, dass es schaffte, seine nominalen Dividendenausschüttungen über 25 Jahre lang kontinuierlich zu erhöhen. Dabei handelt es sich um das Medizintechnik- und Gesundheitsunternehmen Fresenius.
Untersucht worden waren insgesamt 596 börsennotierte deutsche Unternehmen. Davon schafften es gerade mal zwölf, ihre Dividendenausschüttungen zehn Jahre in Folge zu steigern. Das entspricht einem Anteil von 2 Prozent.
Fairvalue-Fazit
Anleger haben nur dann langfristig eine Chance auf zweistellige reale Dividendenrenditen, wenn
- sie die Aktien zu einem sehr niedrigen Preis kaufen,
- das Unternehmen die Dividenden kräftig erhöht,
- die Inflation niedrig bleibt
- und sie bei einem Börsencrash nicht die Nerven verlieren.
In einem Portfolio aus vielen verschiedenen Einzelaktien wird der eine oder andere Treffer dabei sein. Doch im Schnitt ist keine zweistellige Dividendenrendite zu erwarten. Nicht einmal nach 25 Jahren.
Die Dividendenausschüttungen der 30 Dax-Konzerne stiegen seit 1999 durchschnittlich um 5,6 Prozent pro Jahr an. Legt man diese Wachstumsrate zugrunde und unterstellt eine anfängliche Dividendenrendite von 2 Prozent (z. B. eine Ausschüttung von 2 Euro bei einem Aktienkurs von 100) sowie eine jährliche Inflationsrate von 2 Prozent, dann beträgt die reale Dividendenrendite nach 25 Jahren knapp 4,8 Prozent. Das ist mehr als doppelt so viel, aber eben weit von einem zweistelligen Ergebnis entfernt.
Insofern handelt es sich bei den überaus verlockenden Beispielen, die Beate Sander und andere Autoren anführen, um spektakuläre Einzelfälle. Sie wecken Erwartungen bei Aktienanlegern, die hoffnungslos überzogen sind. Wer Zeuge von Zauberei werden will, sollte eine Bühnenshow besuchen. An der Börse wird keine Dividendenmagie geboten.
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