Als ich Anfang der 1990er-Jahre meine Ausbildung als Redakteur begann, gehörte es zur täglichen Routine andere Medien auszuschlachten. Wir suchten nach Geschichten, die wir selbst nicht hatten und nun vielleicht mit einem neuen Dreh aufgreifen könnten.
In dem Stapel aus Tageszeitungen und Zeitschriften in der Nachrichtenredaktion lag natürlich auch jeden Morgen Deutschlands größte Boulevardzeitung. Das Blatt war eine Fundgrube – zumindest auf den ersten Blick. Wenn ich jedoch auf ein Thema aufspringen wollte und den Protagonisten einer Geschichte anrief, hatte ich meistens einen wütenden Menschen am Apparat, der mit Journalisten nichts mehr zu tun haben wollte. Wenig bis gar nichts von dem, was die Boulevardzeitung veröffentlicht hatte, stimme, bekam ich bei solchen Anrufen regelmäßig zu hören.
Das veränderte meine Herangehensweise. Die erste Frage, die ich mir fortan nach der Lektüre einer guten Geschichte stellte, lautete: stimmt das überhaupt?
Heute, mehr als 30 Jahre später, stelle ich mir noch immer diese Frage, wenn ich Finanzgeschichten in Zeitungen und Magazinen lese. Oftmals treten vermeintliche Experten in diesen Geschichten auf, die viel behaupten und nichts belegen. Es gibt Erzählungen, die sie seit Jahrzehnten wiederholen, ohne jemals einen Beweis für deren Richtigkeit geliefert zu haben. Dennoch werden ihre Behauptungen von den Interviewern nicht hinterfragt.
Nehmen wir zum Beispiel Gold. Immer wieder schreiben Medien, das Edelmetall sei ein guter Inflationsschutz. Vorsichtige Journalisten, die sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen wollen, gehen ein wenig auf Distanz, indem sie ein „gilt“ einfügen. „Gold gilt als guter Inflationsschutz.“ Tja, nur bei wem eigentlich?
Ein Autor, der ein einschränkendes „gilt“ einfügt, ist sich seiner Sache nicht sicher. Er hat nicht recherchiert. Er weiß nichts. Er bemüht das Klischee. Mit einem „gilt“ davor, können Journalisten und andere Vorturner etwas in die Welt setzen, ohne es selbst überprüft zu haben.
Weil die Erzählung „Gold ist ein guter Inflationsschutz“ so fest verankert ist wie das Fundament von Fort Knox, treibt die Berichterstattung über das Edelmetall bisweilen bizarre Blüten. Denn seit einigen Monaten schießt die Inflation im Euroraum und in den USA in die Höhe (in fast allen Medien „explodiert“ sie, aber das ist eine andere Geschichte), doch der Goldpreis fällt. Sapperlot, wie ist das möglich? Ich lese Geschichten mit dem Tenor „Gold enttäuscht“ oder „was ist los mit Gold?“.
Nun, kein Grund zur Sorge, mit Gold ist alles in bester Ordnung. Es geht ihm gut. Denn eine verlässliche Absicherung gegen einen Anstieg der Konsumentenpreise war das Edelmetall in den vergangenen 50 Jahren nie. Nur kommt komischerweise kaum jemand auf die Idee, mal zur Abwechslung in diese Richtung zu recherchieren.
Es ist nicht schwierig zu zeigen, das Gold seit den 1970er-Jahren keine Absicherung gegen Inflation war. Ein nennenswerter Zusammenhang zwischen der Teuerung und Veränderungen des Goldpreises ist nicht messbar (die Belege gibt es hier). Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht man nur ein paar Daten, die öffentlich zugänglich sind und rudimentäre Statistikkenntnisse. So einfach ist das – eigentlich.
Gold ist nur ein Beispiel von vielen. Jeden Tag werden von der Finanzindustrie und von Journalisten irgendwelche Zusammenhänge konstruiert, die nicht existieren. An der Börse gibt es nach meiner Kenntnis keine stabilen Wirkungsmechanismen, aus denen sich einfache, allgemeingültige Wahrheiten destillieren lassen. Die Börse ist ein Markt, der so komplex und unergründlich ist wie die Menschen, die auf ihm handeln. Falls also irgendein Experte postuliert, Anlage X wird in den Himmel steigen, wenn Faktor Y wieder fällt, dann sollten Sie sehr skeptisch werden. Bevor Sie beginnen, Ihr Portfolio auf Basis solcher Weisheiten umzustellen, fragen Sie sich besser zunächst: stimmt das überhaupt?